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Moralisierung: Sag' mir nicht, was ich fühlen soll!

Ein erhobener Zeigefinger (hier: Statue des Paulus)
Moralisierung schreckt Andersdenkende ab. Bild: Allie_Caulfield, flickr.com (bearb.) Bildtitel: 2009-03-22 03-29 Sizilien 088 Palermo, Duomo, Paulus, CC-BY

Wenn es eine Sache gibt, die Menschen besonders wirksam davon abhält, sich mit den Gründen für eine vegane Ernährung zu beschäftigen, dann ist es wohl Moralisierung.

Diese These hatte ich bereits im Herbst in einem kleinen Kommentar auf Youtube geäußert. Weil das Video offenbar mehr Fragen aufgeworfen hat, als es beantworten konnte, hier ein neuer Versuch.

Menschen sind moralische Wesen. Jeder gesunde Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine Sicht auf die Welt und ein intuitives Gefühl dafür, was richtig und falsch ist. Die Moral.

Das beginnt im Alter von etwa vier Jahren und endet mit dem Tod.

Jeder Mensch hat also eine andere Moral, allerdings folgt Moral bestimmten Mustern (z. B. unterscheidet sich konservative und progressive Moral) und ist zum Teil genetisch veranlagt.

Der Psychologe Jonathan Haidt erklärt die Entstehung und Wirkung von Moral ausführlich in seinem Buch "The Righteous Mind". Lesetipp!

Doch obwohl wir moralische Wesen sind – oder vielleicht gerade deshalb – ist Moralisierung für die provegane Informationsarbeit eher schädlich als nützlich.

Moralisierung ist es, wenn ich nicht nur einen Zustand schildere, sondern eine Wertung einbringe, wie das Ganze zu beurteilen sei.

Beispiel: "Tiere werden ohne richtige Betäubung getötet …" (Tatsache) "… Fleischesser sind deshalb böse Menschen" (Moralisierung).

Nicht moralisierend wäre es, Zustände neutral sichtbar zu machen und zur Diskussion zu stellen (etwa Bilder aus Schlachthöfen), jedoch ohne eine Wertung mitzuliefern.

Wir wünschen uns alle, dass andere Menschen unsere Werte verstehen und teilen. Es liegt daher in unserer Natur, moralisch hausieren zu gehen. Doch wenn wir es reflektieren, können wir versuchen, strategisch besser zu handeln. Etwas Moralisierung ergibt sich mitunter aus dem Kontext, es geht also nicht um Perfektionismus, sondern um Problembewusstsein.

Besonders wenn wir auf moralische Missstände aufmerksam machen möchten (wie in der Tierhaltung), sollten wir auf die "moralische Vorverdauung" der Informationen verzichten.

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"Show, don't tell", empfehlen journalistische Lehrwerke. Zeigt die Dinge, aber bewertet sie nicht.

Der Prozess der Informationsverarbeitung ist notwendig, damit unsere Zielgruppe einen Missstand aktiv mit ihren eigenen, intuitiven Werten abgleicht.

Kommt ständig nur einer daher, der Fleischesser als Mörder tituliert, wird das allenfalls Trotzreaktionen provozieren. "Ich lasse mir nichts vorschreiben!"

Der Moralisierung fehlt das Gefühl, das für Veränderung notwendig ist.

Moralisierung als Selbstzweck schreckt Andersdenkende ab

Ob Moralisierung meiner Sichtweise hilft – oder ihr eher schadet – hängt vom Kontext an. Wer meine Werte teilt, wird mir Applaus spenden, wenn ich sie mit markigen Worten verkünde!

Moralisierung wird auch gerne genutzt, um die eigene Tugendhaftigkeit zur Schau zu stellen ("Virtue Signalling"). Auch das kann Menschen abschrecken.

Geht es aber darum, anderen Menschen die eigene Sicht auf ein Problem näherzubringen, dann sollten wir auf Moralisierung verzichten. Zeigt die Fakten, aber überlasse die Schlussfolgerung deinem Gegenüber.

Feldversuche zeigen immer wieder, dass den meisten Menschen ein fairer Umgang mit Tieren wichtig ist. Auch, wenn Moral nicht allein ausschlaggebend ist.

Der Umgang mit Tieren in Deutschland hängt also wahrscheinlich nicht damit zusammen, dass sie uns egal wären. Es hängt eher mit unserem Hang zur Verdrängung und sozialen Unauffälligkeit zusammen ("Gruppenzwang").

Die Industrie unterstützt unsere Schwächen, indem sie jeden moralischen Anflug von Zweifeln mit Bildern von idyllischer Tierhaltung und wohlmeinenden Siegeln ausräumt. Dazu kommt die räumliche Distanz der Tierhaltung zu den Verbrauchern.

Fleischesser bekommen also gar nicht mit, über wen sie urteilen, wenn sie die Ernährung zur Privatsache erklären. Das ist klar heuchlerisch. Doch niemand wird das einsehen, wenn er nicht auf die Folgen aufmerksam wird - und diese Informationen mit dem eigenen Weltbild abgleicht.

Daher:

  • Ja zu sachlichen Informationen über Details, die die Tierindustrie lieber geheim halten möchte (Anrüsten, Fachsprache, Eiter in Milch usw. usf.)
  • Nein zu allem, was diese Informationen vorweg bewertet.

Ich bin zuversichtlich, dass die guten Argumente für eine pflanzliche(re) Ernährung ausreichend Resonanz entfalten können, um die schlimmsten Formen der Tierindustrie abzuschaffen – bevor uns die physikalischen Gesetze am Ende dazu zwingen.

Und zwar nicht etwa, weil WIR die Werte vorgeben würden, sondern WEIL es Werte sind, die in der menschlichen Moral veranlagt sind.

Wollen wir das Leid der Tiere verringern und die Machenschaften aufdecken, tun wir gut daran, Informationen sichtbar zu machen und zugleich auf jede Form von Moralisierung zu verzichten.

Wir achten seit mehreren Jahren darauf, in unseren Inhalten nicht zu moralisieren. Es gehört mittlerweile zum Vegpool-Leitbild. Fällt euch doch einmal eine moralisierende Passage auf, dann macht uns bitte darauf aufmerksam!

Veröffentlichung:

Autor: Kilian Dreißig

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Diskussion im Forum:
Moralisierung und vegane Öffentlichkeitsarbeit
Letzter Beitrag: 02. Mär. von Friedhelm.

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