Aus diesen Gründen werden moralische Vegan-Argumente überbewertet!
Ethische Argumente für eine vegane Ernährung werden überbewertet. Moralische Appelle bremsen die pflanzliche Ernährungswende sogar aus.
Ein Appell eines früheren Tierrechts-Aktivisten: Schluss mit der Moralisierung! Und: Her mit echter Transparenz, damit jeder selbst entscheiden kann!
Als ich um 1998 herum Vegetarier geworden bin, ging es mir um Tiere. Die Vorstellung, dass Tiere für meine Ernährung getötet werden, konnte ich mit 14 Jahren einfach nicht ertragen.
Ein paar Jahre später wurde ich Veganer, später Aktivist. Ich war Tierrechtler mit Mission, dessen Lebensinhalt darin bestand, Infostände auf Fußgängerzonen zu veranstalten und verdeckt in Schlachthöfen zu filmen. (Hier ein Beispiel).
Das war noch lange vor der Gründung von Vegpool (gegründet 2011).
Ich fühlte mich oft erfolglos. Ständig dieses "Bullshit-Bingo", wenn Menschen sich belehrt fühlten und innerlich längst abgeschaltet hatten.
Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen:
Moralische Argumente sind nicht nur fürchterlich schwach, sondern auch übergriffig. Es ist, als würde man Passanten ein Stück Kuchen anbieten und zugleich verlangen, dass er ihnen aufrichtig gut schmeckt.
Ich empfinde es immer noch als falsch, leidensfähige Tiere ohne Not absichtlich zu quälen und zu töten. Vegan zu werden, war für mich eine moralische Entscheidung. Eine Befreiung für die Seele.
Doch diese Entscheidung kam aus mir selbst. Möglicherweise wäre ich erst viel später (oder gar nicht) Veganer geworden, wenn man versucht hätte, mir einzureden, was ich über den Umgang mit Tieren zu denken habe.
Vielleicht hätte ich aus Trotz weiter Tierprodukte gegessen.
Ich spreche mich gegen Moralisierung aus. Nicht gegen Moral. Ich spreche mich dagegen aus, moralische Interpretationen vorwegnehmen zu wollen. Dagegen, Menschen zu erklären, was sie angesichts von Tierquälerei zu empfinden haben und welche Schlüsse sie daraus ziehen sollen.
Gleichzeitig benötigen wir Transparenz in der Tierhaltung. Schluss mit trügerischen Werbeversprechen und "Tierwohl"-Labels, die nichts taugen. Schluss mit Stacheldraht und Infrarotkameras.
Alle Verbraucher müssen jederzeit sehen können, wie Tierprodukte erzeugt werden. Nur so können Verbraucher eigene moralische Entscheidungen treffen. Es darf ihnen nicht vorenthalten werden.
Heute bin ich überzeugt: Die Fakten sprechen für sich. Klimaschutz, Umweltschutz, Gesundheit und Tierschutz – so vieles spricht dafür, pflanzlich(er) zu essen.
Vegan-Aktivisten können dazu beitragen, diese Informationen bekannter zu machen. Doch die moralische Interpretation überlassen sie besser der Zielgruppe.
Es stimmt, was manche Tierrechts-Aktivisten sagen: Umweltschutz, Tierwohl und Gesundheit lassen sich auch mit einer weitgehend pflanzlichen Ernährung verwirklichen, ohne ganz vegan zu leben. Deshalb spricht tatsächlich nur die Moral für Veganismus.
Doch Moral kann nicht implantiert werden. Am Ende treffen Menschen ihre moralischen Entscheidungen selbst.
Damit müssen auch Tierrechts-Aktivisten leben. Es kann schließlich nicht klug sein, Menschen moralisch zu belehren, wenn das Resultat ist, dass mehr Tiere leiden.
Diese Schlüsse habe ich daraus gezogen:
- Wir brauchen als Gesellschaft eine Ernährungswende. Es ist kein "Veganer-Thema". Moralische Belehrungen vermitteln den Eindruck, es wäre eine persönliche Ansicht, die man "missionarisch" weitertragen wollte.
- Bei moralischen Themen schildere ich meine Sichtweise, ohne diese zu verallgemeinern. Möglicherweise können meine Leser sie nachvollziehen und mit dem eigenen Weltbild abgleichen. Ich erwarte nicht, dass sie zum selben Schluss kommen.
- Ob etwas moralisch gut oder schlecht ist, entscheidet jeder für sich selbst. Unter Journalisten gibt es die Regel: Zeigen, nicht erklären. Sachliche Berichte, die auch das Gefühl ansprechen, können dazu beitragen, die eigene Weltsicht zu hinterfragen. Die Interpretation davon ("empörend", "schlimm" …) überlässt man den Lesern selbst.
- Ich spreche Menschen an, die sich für eine pflanzliche(re) Ernährung interessieren. Wer aus ideologischen Gründen eine pflanzliche Ernährung ablehnt, gehört nicht zur Zielgruppe. Ich orientiere mich dabei am Pareto-Prinzip.
- Harte ("aggressive") moralische Debatten lösen Abwehr aus. Je mehr Menschen Vegan-Debatten mit moralischer Belehrung verbinden, desto eher werden sie ihre Abwehrsysteme aktivieren und pauschal gegen vegane Ernährung wettern. Moralische Appelle fördern Reaktanz und verzögern die Ernährungswende, die wir alle brauchen, als Gesellschaft.
Veröffentlichung:
Autor: Kilian Dreißig