Kein Hirngespinst: Warum wir unsere Moral nicht einfach erfinden
Basiert moralisches Verhalten eigentlich auf einem Hirngespinst? Ist Moral so etwas wie eine persönliche Geschmackssache, so als würde man eine Lieblingsfarbe wählen? Etwas für Wichtigtuer gar, die gerne andere Menschen belehren?
Die Forschung zeigt: Moral folgt Mustern, die man überall antreffen kann, wo Menschen leben. Moral ist fest in uns Menschen eingebaut.
Der Moralpsychologe Jonathan Haidt ist einer der bekanntesten Experte auf seinem Gebiet. Seit Jahrzehnten forscht er zu der Frage, wie Moral entsteht, wozu sie gut ist und auf welcher Grundlage Menschen moralische Entscheidungen treffen.
In seinem Buch "The Righteous Mind" (2012) stellt Haidt eine psychologische Theorie vor, der zufolge moralische Bewertungen auf 6 Fundamenten basieren:
- Schadensvermeidung: Sorge um das Wohl und die Unversehrtheit anderer.
- Fairness/Gerechtigkeit: Einhaltung von Regeln und Verteilung von Ressourcen in gerechter Weise.
- Loyalität/Bindung: Verbundenheit zu Gruppen, Familie oder Gemeinschaft.
- Autorität/Achtung: Anerkennung von Hierarchien und Respekt vor Autoritäten.
- Reinheit/Heiligkeit: Achtung vor Reinheit und Heiligkeit.
- Freiheit/Unterdrückung: Ablehnung von Unterdrückung und Eintreten für individuelle Freiheit.
Moral ist also ein Bauchgefühl, das uns blitzschnell entscheiden lässt, was richtig oder falsch ist - lange bevor wir bewusst darüber nachdenken.
Um moralisches Verhalten genauer zu untersuchen, haben Psychologen Probanden auf der ganzen Welt mit moralischen Dilemmas konfrontiert. Dabei reichten die Experimente von einfachen Frage bis hin zu komplexeren Beispielen (un-)moralischen Verhaltens.
Eines der einfacheren Beispiele:
Ein Hund liegt in der Sonne und schläft. Ein Mann kommt und tritt den Hund gegen den Kopf. Handelt der Mann moralisch?
Die klare Aussage: Natürlich handelt der Mann unmoralisch. So etwas tut man nicht!
Egal wo: Die Gewalt gegen das friedliche Tier verstößt offenbar auf der ganzen Welt gegen das globale, menschliche Moral-Prinzip von Fairness und Gerechtigkeit.
Und doch ist Moral offensichtlich nicht unsere einzige Entscheidungsgrundlage. Unsere Moral kann durch andere Faktoren einfach unterminiert werden. Besonders tückisch: Sozialer Druck und Gruppenzwang.
Wenn Familie, Freunde und Bekannte friedlichen Hunden gegen den Kopf treten - und das vielleicht sogar als Kulturgut klassifizieren -, fällt es uns leichter, es ebenfalls zu tun.
Und wenn dann noch dazu kommt, dass wir Hunde vielleicht gar nicht selbst gegen den Kopf treten müssen, sondern andere Menschen dafür bezahlen und Produkte mit lachenden Hunde-Comics darauf kaufen, dann hat sich das mit der Moral schnell erledigt.
Oder anders gesagt: Wir sind zwar weiter moralische Wesen - wir tricksen unsere Moral bloß aus. Denn wie gesagt: Moral ist kein Hirngespinst. Wir tun gut daran, unser Bauchgefühl zu hinterfragen.
Am meisten lernen wir laut Moralpsychologen dazu, wenn wir uns mit Menschen austauschen, die völlig andere (moralische) Sichtweisen vertreten als wir selbst.
Veröffentlichung:
Autor: Kilian Dreißig