Rezension: "Das Schweinesystem" von Matthias Wolfschmidt
Wer durch die Fleischabteilungen in deutschen Supermärkten schlendert, wird von einem Schwall an Werbeversprechungen schier erschlagen. Schlagworte wie "Artgerechtigkeit" und "Tierwohl" bestimmen das Marketing für Tierprodukte.
Leider sieht die Realität komplett anders aus. Auch in den oft hochgelobten Bio-Tierhaltungen leiden Tiere entsetzlich unter so genannten "Produktionskrankheiten". Einfach nur deshalb, weil es Kosten einspart.
Unter dem sehr distanziert klingenden Begriff "Produktionskrankheiten" verstehen Tierärzte Erkrankungen bei Nutztieren, die auf Züchtung, Fütterung, Haltungssystem, Stall-Management und ähnliche Faktoren zurückzuführen sind. Krankheiten also, die mit der Gewinnung von Tierprodukten wie Fleisch, Milch und Eier verbunden sind. Und die dadurch entstehen, dass den Tieren grundlegende Bedürfnisse verweigert werden. "Produktionskrankheiten" sind oft extrem schmerzhaft und führen nicht selten zum Tod der Tiere.
Matthias Wolfschmidt, studierter Tierarzt und heute stellvertretender Vorstand bei der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch, geht in seinem Buch "Das Schweinesystem" ausführlich auf die Ursachen solcher Produktionserkrankungen ein - übrigens nicht nur bei Schweinen (wie der Buchtitel vermuten lässt), sondern auch bei Rindern und Hühnern.
Systematische Tierquälerei in deutscher Landwirtschaft.
Im Buch "Das Schweinesystem" geht Wolfschmidt detailliert der Frage auf den Grund, wie Produktionserkrankungen entstehen, wie verbreitet sie sind - und welche Auswege es geben könnte. Und: Der Autor betont deutlich, dass solche Produktionserkrankungen Folge eines Systems sind, das Tiere quält, Bauern in den Ruin treibt und Verbraucher täuscht. Wolfschmidt orientiert sich dabei streng an wissenschaftlichen Methoden und fordert, dass Tierschutz mehr sein muss, als bloß eine emotionale Entscheidung. Dass Tierschutz messbar werden muss.
Der Leser erfährt im Buch "Das Schweinesystem" äußerst unappetitliche Details der ganz realen, alltäglichen Tierproduktion in Deutschland. Zum Beispiel, dass ein großer Teil der Tiere krank ist, ihre Produkte aber als "gesunde Lebensmittel" vermarktet werden. Dass praktisch kein Liter Milch im Handel von gänzlich gesunden Kühen stammt. "Gesunde" Milch wird offenbar oft mit Milch von Tieren mit Eutererkrankungen vermischt, die so stark mit Eiter belastet ist, dass sie sonst gar nicht in den Handel gelangen dürfte (S. 46).
Ist es optimal, wenn 15% der Tiere lahmen?
Der Leser erfährt auch, dass es oft als optimal angesehen wird, wenn in einer Milchkuh-Herde "nur" 15% der Tiere lahmen (S. 43). Dass Lungenentzündungen in fast jeder Schweinehaltung vorkommen. Dass es für Tierhalter billiger ist, einen "Ausschuss" einzukalkulieren, als ihn zu vermeiden.
Und viele Tiere leiden gleich an mehreren Erkrankungen. Es scheint in der Tierindustrie völlig normal zu sein, dass praktisch alle Tiere im Laufe ihres kurzen Lebens mindestens eine schwere Erkrankung durchmachen. Für "gesunde Tierprodukte".
Es ist ein krankes System, in dem praktisch alle Beteiligten verlieren.
Die Agrarwirte, die als Unternehmer einem enormen Marktdruck durch die großen Handelsketten ausgesetzt sind. Die Verbraucher, denen mit Lügenmärchen "gesunde" Produkte von kranken Tieren vermarktet werden. Und natürlich die Tiere, die das Leid am eigenen Körper erfahren.
Und dieses System wird durch staatliche Subventionen am Leben erhalten.
"Bio" ist oft auch nicht viel besser.
Auch "Bio" gibt keine Garantie über die Gesundheit der Tiere. Oft seien Bio-Tiere sogar öfter von Krankheiten betroffen. Ein kurzer Blick in den Hof könne keine Aussage darüber geben, ob die Tiere auch gesund seien, so Wolfschmidt. Es sei ein systemimmanentes Problem, das nicht durch ein paar neue Siegel und Oberflächen-Kosmetik zu behandeln sei.
Es ist für jeden, der glaubt, dass in Deutschland Tiere mit einem Mindestmaß an Respekt behandelt werden, zutiefst erschreckend, wie extrem das System der Tierausnutzung ist. Wie radikal Tiere ausgebeutet werden, um noch den letzten Cent einsparen zu können. Immer wieder auf Kosten der Tiere.
Und das in einem Land, das den Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen hat!
Achtung des Gesetzes statt weiterer Tierschutz-Siegel.
Matthias Wolfschmidt lehnt allerdings den verführerisch wirkenden Weg ab, einfach ein weiteres "Tierwohl"-Siegel mit strengeren Auflagen zu entwerfen. Schließlich ist jeder Fall einer "Produktionserkrankung" ein Verstoß gegen das Gesetz. Es dürfe nicht sein, dass nur bestimmte Tiere gesetzeskonform gehalten werden, während der Großteil leiden muss. Und mit einzelnen Verbesserungen sei es ohnehin nicht getan, betont der Autor. Eine deutliche Absage ans staatliche Tierwohl-Label.
Das Buch über das "Schweinesystem" in Deutschland ist ein absoluter Lesetipp für Alle, die nicht weiter die Augen verschließen wollen. Auch für Politiker, Veränderer und Tierhalter.
Der Ansatz von Wolfschmidt, das Wohl der Tiere eben nicht an freiwillige Selbstverpflichtungen oder Qualitäts-Siegel zu koppeln, sondern als Staatsziel konsequent durchzusetzen, ist erfrischend klar. Denn wenn das Tierschutzgesetz ohnehin laufende missachtet würde, könne man es ja auch gleich wieder abschaffen, so sein Argumentation.
Höhere Preise für Tierprodukte, die sich aus einer gesetzeskonformen Tierhaltung ergäben, seien Aufgabe der Sozialpolitik, nicht der Agrar-Industrie, schreibt Wolfschmidt. Die Behauptung der Agrarwirte, dies alles nur im Sinne der Verbraucher zu tun, sei damit hinfällig.
Hervorragende Argumente für vegane Ernährung.
Da das Buch hervorragende Argumente für eine vegane Lebensweise liefert, ist es schade, dass der Autor das Thema weitgehend unterschlägt. Mehr als "Respekt" im Vorwort hat der Autor dazu nicht zu sagen. Vielleicht auch aus taktischen Gründen. Schließlich fühlt Wolfschmidt einer Branche auf den Zahn, die selbst vor kleinsten Veränderungen schon Zeter und Mordio schreit.
Neu auf Vegpool:
Eine vegane Ernährung würde Produktionskrankheiten in der Tat schon bei der Ursache bekämpfen. Denn was der Autor in "Das Schweinesystem" auch an Veränderungen vorschlägt - Tiergesundheit bleibt immer Auslegungssache. Und selbst bei strengsten Veränderungen in deutschen Tierhaltungen, wird die Mast und Schlachtung den Tieren niemals gerecht. Diese Behandlung ist Gewalt gegen Tiere - also das Gegenteil von Tierschutz.
Das Buch "Das Schweinesystem" ist im Verlag S. Fischer erschienen und kostet in Deutschland 18 Euro. Die ISBN lautet 9783100025463
Veröffentlichung:
Autor: Kilian Dreißig