Warum auch Veganer komisch sein dürfen.
Immer wieder erscheinen reißerische Artikel über Veganer, die sich in irgendeiner Weise seltsam benehmen. Von Besserwissern über Tollpatsche bis hin zu den komplett Abgedrehten.
Als Leser solcher Berichte denkt man sich "Die Veganer haben doch echt einen an der (eifreien) Waffel!". Stets mit dem wohligen Gefühl, auf der "richtigen" Seite zu sein.
Doch auch innerhalb der veganen Szenen hagelt es dann oft Kritik. Man müsse als Veganer in der Öffentlichkeit möglichst normal auftreten, um Vorurteile nicht zu schüren oder zu bestätigen.
Doch der Anspruch, stets vorbildlich zu sein, ist trügerisch. Auch Veganer dürfen komisch sein.
Die Forderung nach einem adäquaten, veganen Verhalten in der Öffentlichkeit basiert auf der Annahme, dass man so Vorurteile verhindern würde. Manch ein Veganer verspürt gar eine Art Pflicht, "vorbildlich" zu leben, um der "guten Sache" nicht zu schaden. Schließlich geht es bei der veganen Lebensweise auch den Schutz von Tieren und Umwelt. Da sei das persönliche Empfinden (Wutausbrüche, Zähneknirschen, Anrufe bei Bürgermeistern) eben manchmal unterzuordnen.
Vorurteile entstehen jedoch lange bevor das individuelle Verhalten überhaupt eine Rolle spielt.
Vorurteile dienen dazu, Personen (und die von ihnen vermeintlich verkörperte Philosophie) präventiv abzuwerten. Sie dienen gerade dazu, die betroffenen Personen nicht weiter ernstnehmen zu müssen - und dadurch auch gute Argumente zu blockieren.
Ein chinesisches Sprichwort sagt schon: Wer die Wahrheit kennt, braucht ein schnelles Pferd.
Auch wenn Veganismus sicher nicht "die Wahrheit" ist, so sprechen doch sehr gute Argumente dafür, sein eigenes, anerzogenes Ernährungs-Verhalten einmal vorbehaltlos zu hinterfragen. Viel zu viel spricht heute dagegen, Fleisch und Tierprodukte zu essen.
Vorurteile dienen der Abwehr von Argumenten.
Doch wer sich mit Argumenten für eine vegane Ernährung fundiert befasst, läuft in Gefahr, die Diskrepanz zwischen den eigenen Wertvorstellungen und dem eigenen Verhalten (zum Beispiel als Tierfreund, der gerne Wurst isst) zu bemerken. Eine unangenehme Situation, die oft dadurch vermieden wird, dass man gleich alles ablehnt, was mit dem Thema überhaupt zu tun hat.
Beispiel: Vegane Ernährung ist tierfreundlicher? Mit solchen Radikalen will ich nichts zu tun haben!
Lieber glaubt man an die friedlichen Comic-Tierchen auf der Wurst-Verpackung. Selbst wenn das die eigene Intelligenz beleidigt.
Viele Veganer erinnern sich an das Gefühl (und an eigene, frühere Vorurteile) - schließlich haben sie sich einmal dieselben Fragen gestellt und ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen.
Wer eine faktenbezogene Auseinandersetzung mit den eigenen, anerzogenen Gewohnheiten ablehnt, vermeidet eine Beschäftigung mit der Realität - und dagegen hilft kein noch so vorbildliches Verhalten der Veganer. Vielmehr werden Veganer reflexhaft als aufdringlich empfunden, sobald die Diskussion auch nur das Thema streift. Das liegt nicht in der Verantwortung der vegan lebenden Menschen.
Vorurteile zur sozialen Kontrolle.
Vorurteile über Veganer verärgern nicht nur Menschen, die sich zu unrecht diffamiert fühlen - sondern sie üben auch eine soziale Kontrolle über Diejenigen aus, die aus guten Gründen überlegen, vegan zu werden.
Motto: Wenn Du Veganer wirst, weißt Du, was Dir blüht!
Was ist deine vegane Haupt-Motivation?
Vorurteile gegenüber Veganern sorgen dafür, dass die guten Argumente für eine vegane Ernährung außen vor bleiben. Dass eine funktionierende Lösung wie eine vegane Ernährung von vornherein ausgeschlossen wird und allenfalls marginale Veränderungen in Betracht gezogen werden ("Bio"-Fleisch).
In postfaktischen Zeiten haben die Vorurteile daher Hochkonjunktur.
Und auch viele Medien wissen die explosive Kraft der Vorurteile für sich zu nutzen.
Viel Aufregung für viel Reichweite.
Längst hat sich in Redaktionen herum gesprochen, dass man mit Vorurteilen ohne Mühe viel kostenlose Reichweite generieren kann. Dass man so Menschen erreicht, die sich über grundlose Diffamierung aufregen und ihren Unmut kundtun - angeheizt von anonymen Internet-Pöbeln. Und auch manch ein Veganer "teilt" solche Artikel gerne im eigenen Netzwerk, aus Wut über so viel Oberflächlichkeit und diese bewusste Provokation.
So füllen sich die Kommentar-Spalten in Windeseile - und der Redakteur reibt sich die Hände, längst auf der Suche nach dem nächsten Vorurteil. Mit Journalismus, der Argumente hinterfragt und differenziert, hat das nichts zu tun.
Auch "korrektes" Verhalten macht abhängig von Vorurteilen.
Vorurteile funktionieren auf einer rein emotionalen Ebene, fernab von Argumenten und Tatsachen. Auch wer sich extra korrekt verhält, um Vorurteile nicht zu bedienen, macht sich doch von genau diesen Vorurteilen abhängig. Der handelt nicht mehr frei, sondern unterwirft sein Verhalten ebenfalls den Vorurteilen - wenn auch mit gegenteiliger Motivation.
Der Gedanke, durch vorbildliches Verhalten Vorurteile zu entschärfen, suggeriert aber auch, dass man in erster Linie "Veganer" sei, statt ein ganz normaler Mensch mit unzähligen Eigenschaften, darunter eine vegane Lebensweise.
Natürlich spricht spricht vieles für ein normales, respektvolles Verhalten im Umgang mit seinen Mitmenschen. Doch sollte man sich als Veganer auch nicht wichtiger nehmen als man ist. Wer Vorurteile benötigt, um sich vor Argumenten zu schützen, wird weiterhin Vorurteile haben.
Und auch Authentizität spielt eine Rolle dabei, um als Mensch (und nicht nur als Veganer) wahrgenommen zu werden. Dazu muss man seine Gefühle und auch seine Eigenarten nicht verleugnen.
Der Grund für viele Vorurteile über Veganer liegt nicht bei den Veganern, sondern bei denen, die damit gute Argumente verdrängen. Und bei denen, die Vorurteile nutzen, um Menschen gegeneinander aufzuhetzen.
Deshalb kann man auch als Veganer ruhig komisch sein.
Veröffentlichung:
Autor: Kilian Dreißig