Es gibt die Gefahr, dass Autoren eines Vegan-Portals ihre Artikel schönfärben, aus einer Ideologie heraus. Doch zu sagen, dass ich versuche, eigene Weltanschauung und Verzerrungen zu reflektieren, macht es für andere Menschen nicht glaubwürdiger. Jeder könnte das sagen.
Am Ende können wir anderen Menschen nicht in den Kopf schauen. Aber wenn wir uns nicht auf unser Bauchgefühl verlassen wollen (sympathisch = glaubwürdig, siehe HALO-Effekt), können wir uns nur an der Qualität der Begründung orientieren (gut begründetes Argument = glaubwürdig).
https://vegpool.de/magazin/strategien-tierindustrie-halo-effekt.html
Hier also die Begründung, warum der Artikel nicht auf Karninutrients, die Vergiftung durch Knollenblätterpilze (vegan!) und Co. eingeht.
Schon in meinen ersten Artikeln über die Haltungsänderung des Influencers zur veganen Ernährung, habe ich deutlich gemacht, dass ich die These nicht grundsätzlich ablehne. Nicht, weil ich daran glaube, sondern nur, weil ich der Meinung bin, dass man auch Thesen berücksichtigen sollte, die einem nicht in den Kram passen (= Schutz vor Confirmation-Bias).
Eine These hat jedoch keine Beweiskraft, BIS sie entweder belegt, oder widerlegt wurde, und zwar nach wissenschaftlicher Methodik (und nicht nach Bauchgefühl oder der Intensität von Applaus).
Dass der Influencer seine These zum Teil auf anonymen Aussteigerberichten und einem Einzelversuch mit seiner Partnerin stützte, ist zum Haareraufen. 😅
Mein wichtigstes Learning aus der Sache war, dass die Berufsbezeichnung "Ernährungswissenschaftler" nicht geschützt ist. Das hatte ich vorher nicht gewusst.
Dass trotzdem tausende Leute ihn bestärkt, ermutigt und zum Teil sogar aggressiv verteidigt haben, zeigt am Ende nur, dass große Teile der Vegan-Bubble keine Ahnung von Grundlagen der Wissenschaft haben.
- Ein weiterer Störfaktor bei der Einschätzung, welche Themen relevant sind, ist das WYSIATI-Prinzip ("was ich sehe ist alles, was da ist") nach Daniel Kahnemann. Wir berücksichtigen bei Entscheidungen oft nur die Informationen, die wir kennen. Aber wir machen uns nicht bewusst, dass wir möglicherweise sehr relevante Informationen nicht haben (auch wenn diese unendlich mal wichtiger wären).
- Und selbst die Informationen, die wir haben, sortieren wir unbewusst oft so, dass sie in unser Weltbild passen. Das ist der Confirmation-Bias. So kann es dazu kommen, dass wir Informationen sehr hoch bewerten, die für unsere Gesundheit vollkommen irrelevant sind, nur weil wir sie aufgrund unserer Weltsicht für wichtig halten.
- Oft genügt uns Menschen die Vorstellbarkeit einer These, um bereits daran zu glauben. Die Vorstellung, dass vegane Produkte aus dem Chemiebaukasten kommen, genügt, damit manche Leute vegane Produkte meiden und krebserregendes Fleisch essen. Genauso gut kann man sich vorstellen, dass ein Hühnerei eine Frau heilt. Oder dass Ausländer alle krimineller sind als Inländer. Das Problem ist, dass diese Geschichten oft trügen UND OFT FALSCH SIND. (Der Fachbegriff fehlt mir gerade – ich sage mal Vorstellungs-Bias dazu).
- und dann kommt unser veranlagtes Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit obendrein. Das, was andere Leute durch Pumpen im Gym oder Sportwagen befriedigen, tun andere, indem sie sich komplex klingende Worte aneignen und sich als Wissenschaftler aufführen. Ob das nun ethische Debatten über die Rechte von Mücken sind, oder die Darstellung als Ernährungsprofis, spielt keine Rolle. Sie ziehen sich das Thema quasi an, wie ein Korsett. Es geht um Aufmerksamkeit, Zugehörigkeit, soziale Relevanz usw. Und für mich erklärt genau das, warum der Influencer so viel Aufmerksamkeit bekommt, obwohl etliche Videos seine wissenschaftliche Inkompetenz belegen.
Würden wir alle uns verfügbaren Informationen zu Gefahren für die Gesundheit nach Priorität ordnen (und mögliche Verzerrungen bestmöglich vermeiden), dann käme eine Liste zustande, an der wahrscheinlich weit oben Klimakrise, Wassermangel, Hungersnöte, Seuchen, Kriege um Rohstoffe und infolgedessen Fluchtbewegungen und Konkurrenzkämpfe stehen.
Und weil vegane Ernährung damit in Verbindung steht (als Mittel, um diese Folgen wenigstens hinauszuzögern oder abzumildern), sind das Ernährungsthemen.
Rationalität setzt zum Glück keine Allwissenheit voraus, aber ein Handeln nach bestimmten Formeln und Grundsätzen. Dass wir also nicht einmal sagen, eine Info wäre wichtig, während wir dieselbe Info ein anderes Mal ohne gute Begründung vernachlässigen.
Wenn wir also rational an die Sache herangehen, dann müssen wir klar sagen: Die Punkte ganz oben auf der Liste kosten wahrscheinlich sehr viel mehr Menschen das Leben als alles andere. Also sind sie für einen unbedarften Einsteiger besonders relevant.
Und weil die Liste zwischen Klimakrise und Karninutrients einige weitere Punkte enthält (sagen wir zum Beispiel 100 oder 1.000 Punkte, die uns spontan einfallen), stehen wir zwingend vor der Herausforderung, eine Abwägung zu treffen.
Aus Erfahrung wissen wir, dass lange Artikel kaum gelesen werden, weil die meisten Leser einen konkreten, alltagstauglichen Überblick suchen, und keine fachliche Abhandlung.
Wenn wir also Lesern helfen wollen, müssen wir die Informationen so aufbereiten, dass sie diese problemlos konsumieren können und einen der Kürze des Formats angemessenen Überblick erhalten.
Deshalb greifen wir nicht willkürlich irgendwelche Listenpunkte heraus, die uns nach unserem Bauchgefühl wichtig erscheinen, sondern orientieren uns an denen, die besonders weit oben stehen.